Inklusion in der Bibel: „Viele Glieder, ein Leib“

Inklusion in der Bibel: „Viele Glieder, ein Leib“
Hanno Terbuyken
So., 29.01.2023 – 05:00

© Foto: akg-images/Erich Lessing
Die Heilung des Lahmen am Teich Bethesda (Giandomenico).

Seit die UN-Behindertenrechtskonvention vor fünf Jahren auch in Deutschland allen Menschen ein Recht auf uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe zusprach, wird das Thema Inklusion heftig diskutiert. Dabei ist es gar nicht so neu, wie man vielleicht denken würde. Die Frage, inwiefern Menschen, die von den Normvorstellungen abweichen, an der Gesellschaft teilhaben können und sollten, wird auch in der Bibel immer wieder zum Thema.

1. Gottebenbildlichkeit

1. Mose 1,26f

„Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ So steht es in der Schöpfungsgeschichte. Und das tat Gott dann auch. Er schuf Mann und Frau, segnete sie und forderte die Menschen auf, sich zu vermehren und die Erde in Besitz zu nehmen. Schon dass er einen männlichen und einen weiblichen Menschen schuf, macht deutlich: Es kann Gott nicht darum gegangen sein, ein einzelnes perfektes Abbild seiner selbst hervorzubringen. Die Gottebenbildlichkeit zeigt sich vielmehr gerade in der Verschiedenheit der Menschen, die einander ergänzen. Jeder hat besondere Gaben, aber auch Schwächen. All das hat seine Berechtigung.

Zitat: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.“

2. Ausgrenzung

3. Mose 21,16ff; 2. Samuel 5,8

Dennoch lebten kranke, behinderte und aus anderen Gründen von der Norm abweichende Menschen auch damals meist am Rande der Gesellschaft. Wie die Armen, Witwen und Waisen, waren behinderte Menschen auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen.

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Von wichtigen Aufgaben, wie dem Tempeldienst oder Kriegsdienst waren schon leicht behinderte Menschen ausgeschlossen. Man nahm ihre Defizite als „Fehler“ wahr. In den alttestamentlichen Vorschriften für Priester heißt es beispielsweise: „Wenn einer … einen Fehler hat, der soll nicht herzutreten, um … zu opfern.“ Dann folgt eine Aufzählung solch möglicher „Fehler“: Blindheit und Lähmungen, ein entstelltes Gesicht, „ein weißer Fleck im Auge, … Krätze oder Flechten oder beschädigte Hoden“; aber es genügte auch schon ein kaputter Fuß, „eine gebrochene Hand“ oder ein Buckel.

Zitat: „Lass keinen Blinden und Lahmen ins Haus.“

3. Schutz Benachteiligter

3. Mose 19,14; 5. Mose 27,18; Sprüche 31,8

Zugleich gab es jedoch auch damals schon rechtliche Regelungen zum Schutz behinderter und benachteiligter Menschen. „Verflucht sei, wer einen Blinden irreführt auf dem Wege!“, heißt es da zum Beispiel und: „Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten.“ Anderen aus Ehrfurcht vor Gott nicht respektlos entgegentreten, eine schöne Forderung, die es heute noch zu beherzigen lohnt. Aber auch das ist nur ein erster Schritt zu einem selbstverständlichen Miteinander.

Zitat: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“

4. Ins Herz schauen

Hiob 29,15; 1. Samuel 16,7

Dass es nicht immer der Größte und Schönste sein muss, der für eine bestimmte Aufgabe am geeignetsten ist, erklärte Gott Samuel, als er ihn losschickte, um einen neuen König zu salben. Er schaue nicht auf all die Äußerlichkeiten, die den Menschen so wichtig seien, betonte er: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.“

Hiob, der inzwischen selbst von Krankheit gezeichnet war, hätte sich ein solches Ins-Herz-Blicken sicher auch von seinen Freunden gewünscht. Die nämlich unterstellten ihm, er habe seine Lage durch früheres Fehlverhalten selbst verschuldet, und gaben ihm Ratschläge, die an seiner Situation völlig vorbeigingen. Wer andere Menschen wirklich unterstützen will, der kann eben nicht einfach von seinen eigenen Vorstellungen ausgehen. Nur wer und die tatsächlichen Bedürfnisse anderer erkennt, kann später vielleicht wie Hiob von sich sagen:

Zitat: „Ich war des Blinden Auge und des Lahmen Fuß.“

5. Inklusion ganz selbstverständlich

Johannes 9,3

Für Jesus scheint das, was heute unter dem Begriff Inklusion zusammengefasst wird, eine selbstverständliche Lebenshaltung gewesen zu sein. Unter seinen Jüngern fanden sich ehemalige den Römern nahestehende Zöllner wie Matthäus ebenso wie Simon, der sich als Zelot wohl für die Befreiung von der römischen Herrschaft einsetzte.

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Auch auf die Anliegen ausländischer oder als Sünder ausgegrenzter Menschen ging Jesus immer wieder ein, aß sogar mit ihnen zusammen, wenn er echtes Interesse und Glauben bei ihnen erkannte. Zudem betonte er, anders als viele seiner Zeitgenossen, Krankheiten oder Behinderungen seien nicht durch das Fehlverhalten des Betroffenen oder seiner Vorfahren verursacht. Als seine Jünger ihn fragten, ob die Eltern eines Blindgeborenen an dessen Blindheit schuld seien, antwortete Jesus:

Zitat: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“

6. In die Gemeinschaft zurück

Matthäus 8,14f; 9,27ff

Die Heilungsgeschichten, die über Jesus erzählt werden, berichten auch von der Rückkehr bisher an den Rand gedrängter Menschen in die Gesellschaft. Ohne Berührungsängste geht Jesus auf Kranke und Ausgestoßene zu und fordert so auch seine Zeitgenossen zu einem unbefangenen Umgang miteinander auf. Als zwei Blinde Jesus um Hilfe bitten, fragt er nur: „Glaubt ihr, dass ich das tun kann?“ Sie bejahen und Jesus berührt „ihre Augen und sprach: Euch geschehe nach eurem Glauben! Und ihre Augen wurden geöffnet.“ Jesus begegnet auch den Kranken und Behinderten  mit Respekt und ganz ohne mitleidiges Gehabe. Letztendlich ist es der Glaube der Menschen selbst, der sie heilt. Obwohl Jesus ihnen meist verbietet vom Heilungsgeschehen zu erzählen, können sie die Freude darüber nicht für sich behalten. Sie erzählen ihre Geschichte und gehören endlich wieder dazu.

Zitat: „Jesus kam in das Haus des Petrus und sah, […] dessen Schwiegermutter […] hatte das Fieber. Da ergriff er ihre Hand und das Fieber verließ sie. Und sie stand auf und diente ihm.“

7. Viele Glieder – ein Leib

1. Korinther 12,12ff

Den Wert, den die Verschiedenartigkeit der Menschen für die Gemeinschaft darstellt, beschreibt Paulus im Brief an die Korinther in einem eindrücklichen Bild. Wie ein Körper, der aus vielen Körperteilen besteht, so sei es auch in der christlichen Gemeinschaft, meint er, und fährt fort: „Wenn aber der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum bin ich nicht Glied des Leibes, sollte er deshalb nicht Glied des Leibes sein? … Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? … Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht.“

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So wie der Körper all seine Teile zum Funktionieren brauche, so brauche die Gemeinschaft auch alle Mitglieder – und manchmal seien es gerade die Schwachen und Unauffälligen, die zum Gelingen am meisten beitragen, betont er. Wer erkennt, dass es in einer Gesellschaft auf jeden Einzelnen ankommt, der kann auch Paulus‘ bedenkenswertes Fazit nachvollziehen:

Zitat: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“